Bis zum großen Crash

Auf Wissen4Future steht ein Vortrag, der einiges zur Klimakrise klarmacht:

Wissen4Future Teil 10: Warum handeln „wir“ nicht wo „wir“ doch wissen? von Prof. DDr. Verena Winiwarter, Umwelthistorikerin (OEAW) und Wissenschaftlerin des Jahres 2013.

Sie bringt eine großartige systemische Analyse der Klimakrise.

Warum reagiert die Gesellschaft nicht mit der Entschlossenheit und Eile auf die Klimakrise, welche die physikalischen Fakten gebieten?

Der große Crash

Ich finde die systemische Analyse von Verena Winiwarter sehr gelungen. Aufgabe der Klimabewegung sieht sie darin, auf die Grenzen und Katastrophen hinzuweisen und keine Lösungen anzubieten (Wir streiken bis ihr handelt). Die funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft bleibt bestehen, solange  die fossilen Energieträger wie Erdöl, Kohle und Erdgas vorhanden sind. Dann kommt es zu einer Transformation. Ich würde es aber Crash nennen oder wie es Kurt Vonnegut sagt, Cold Turkey (Quelle: Verena Winiwarter, Der Weg zur klimagerechten Gesellschaft, S.64).

Bis dorthin müssen diese Funktionssysteme (Wirtschaft, Bildung, Politik, Religion, Wissenschaft, Kunst, Recht, Sport, Gesundheit, Militär, Polizei, Massenmedien,  inklusive der psychischen Systeme) mit den Schwierigkeiten und Katastrophen wie Überschwemmungen, Hitzewellen, Dürre, Steigung des Meeresspiegels, Verringerung des Nahrungsangebotes, Aussterben von Arten u.a. zurecht kommen.

Meiner Ansicht nach zögern sie den Crash oder den Cold Turkey hinaus.

Cold Turkey

Ich bringe einen wichtigen Einschub: Verena Winiwarter las bei einem Treffen 2022 einen Essay von Kurt Vonnegut vor, der mit dem englischen Begriff für den kalten Drogenentzug „Cold Turkey“ überschrieben ist.
Er schreibt, nachdem er über seine Erfahrungen mit Drogen, vor allem Nikotin berichtet hat:
„Aber ich sage Ihnen eines: Ich hatte einmal ein High, das nicht einmal Crack-Kokain erreichen konnte. Da habe ich meinen ersten Führerschein gemacht! Achtung, Welt, hier kommt Kurt Vonnegut.
Und mein Auto damals, ein Studebaker, wie ich mich erinnere, wurde, wie fast alle Transportmittel und andere Maschinen heute, und elektrische Kraftwerke und Öfen, von den am meisten missbrauchten und süchtig machenden und zerstörerischen Drogen von allen angetrieben: fossilen Brennstoffen.
Als Sie hier ankamen, auch als ich hier ankam, war die industrialisierte Welt bereits hoffnungslos abhängig von fossilen Brennstoffen, und sehr bald wird es davon keine mehr geben. Cold Tukey.
Darf ich Ihnen die Wahrheit sagen? Ich meine, das sind keine Fernsehnachrichten, oder?
Hier ist, was ich für die Wahrheit halte: Wir sind alle Süchtige nach fossilen Brennstoffen in einem Zustand der Verleugnung und stehen kurz vor dem kalten Entzug.
Und wie so viele Süchtige, die kurz vor dem kalten Entzug stehen, begehen unsere Führer jetzt Gewaltverbrechen, um das Wenige zu bekommen, das von dem übrig ist, wovon wir abhängig sind.“

Quellen: Kurt Vonnegut. Cold Turkey. In These Times May 2004
Verena Winiwarter, Der Weg zur klimagerechten Gesellschaft. Sieben Schritte in eine Nachhaltige Zukunft. 2022.

Verena Winiwarter beginnt in ihrem Vortrag mit einer Geschichte eines jungen Mannes, der in Australien an der Hitze stirbt.

Nach dem wichtigen historischen Überblick und der genauen Analyse der Gesellschaft mit den Funktionssystemen (Wirtschaft, Bildung, Politik, Religion, Wissenschaft, Kunst, Recht, Sport, Gesundheit, Massenmedien) geht sie auf das Agieren der sozialen Bewegungen ein.

Klimaschutz als Bewegung:
Winiwarter zitiert Luhmann: Es geht darum, Aufmerksamkeit zu gewinnen für Probleme, die die Funktionssysteme strukturell nicht lösen oder schlecht lösen. (Luhmann 1996; 190f)
Proteste sind Kommunikationen, die an andere adressiert sind und deren Verantwortung anmahnen (Luhmann 1991, S.135)

Fridays for Future: Wir streiken bis ihr handelt.

Das Immunsystem der Gesellschaft:
Die sozialen Bewegungen artikulieren öffentlichen Widerspruch und wirken auf diese Weise wie ein Immunsystem der Gesellschaft, das Schutzmechanismen gegen bestimmte Folgen der funktionalen Differenzierung aufbaut (Tratschin 2016: 258)
Was macht eine soziale (Protest-)Bewegung in systemtheoretischer Sicht? Sie könnte gesellschaftliches Lernen fordern und umsetzen.
Gesellschaften lernen NICHT dadurch, dass ihre psychischen Systeme (Menschen) lernen (die sind eine Umwelt der Gesellschaft) SONDERN DURCH Binnendifferenzierung und Einrichten neuer Organisationen und (derzeit) neuer Subsysteme.
(IPPC, Greenpeace, IPBES, oekom Verlag, CCCA …)

RADIKALE Bewegungen bekämpfen die funktionale Differenzierung der Gesellschaft.
Aber die funktionale Differenzierung muss man nicht bekämpfen. Denn diese wird den Ausstieg aus fossiler Energie nicht überdauern (Wenn wir keine fossile Energie mehr haben, haben wir 50% weniger Energie!).

Es geht um Zusammenbruchsbearbeitung, nicht Problemlösung.
Das steckt hinter dem Begriff der Transformation. Aber kein psychisches System (kein Mensch) und kein Subsystem kann sich vorstellen, was herauskommt.

Kim Stanley Robinson schreibt das Buch „Ministerium der Zukunft“. Sie zitiert daraus. Es ist in der Früh schon unvorstellbar heiß.

Übrigens: Hartmut Rosa sieht drei wesentliche Ausprägungen der aktuellen Krise der Moderne:
die ökologische Krise (z.B. als Überschreitung planetarer Grenzen) aufgrund der Endlichkeit der natürlichen Ressourcen gegenüber einer unlimitierten Steigerungserwartung,
die politische Krise, die wesentlich daraus entsteht, dass demokratische Aushandlungsprozesse für die beschleunigten technologischen und daraus resultierenden gesellschaftlichen Veränderungen zu langsam sind und darum als ineffektiv oder obsolet betrachtet werden,
die psychische Krise der Subjekte, die sich von der Beschleunigung überfordert und daher erschöpft (burn-out) sehen.

Die  Beschleunigung und die Steigerungserwartung wirken sich in Krisen aus, die wir nur bewältigen, wenn wir entschleunigen, langsamer werden und sagen: Das brauch ich nicht.

Krieg und Pandemie

Es gab zwei Ereignisse, die das schon für uns notwendig machten: Die Pandemie und der Krieg. Beide entschleunigten, machten uns langsamer und wir sagten: Das brauchen wir nicht. Aber kaum war die Pandemie vorbei und der Krieg wurde chronisch, beschleunigten wir und steigerten die Erwartungen. Jetzt müssen wir weiter mit Katastrophen wie Überschwemmungen, Hitzewellen, Dürre, Steigung des Meeresspiegels, Verringerung des Nahrungsangebotes, Aussterben von Arten u.a. zurecht kommen.

Wenn wir die Zusammenbruchsarbeit angehen, zögern wir den großen Crash hinaus. Wie lange? 40 Jahre? 80 Jahre? „Wer weiß?“
Danke, Verena Winiwarter!

Wissen4Future Teil 10: Warum handeln „wir“ nicht wo „wir“ doch wissen? von Prof. DDr. Verena Winiwarter.
Die Folien zum Vortrag sind hier abrufbar.

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